Montag, 31. Januar 2022

Journalismus als Ideologiefalle?

Seit Tagen schon, wenn nicht gar seit Wochen, erscheinen reißerische Titel auf dem Bildschirm, sobald man zum Posteingang möchte. Es ist ermüdend, sie alle zu zitieren oder auch nur zu paraphrasieren... Erstaunlich ist ebenfalls die Bandbreite der Themen, die dergestalt abgearbeitet wird: Ratzinger, Mißbrauch, Putin, Diktaturen, Ukraine, Outing, Kriegsgefahr, Gas, Erdöl, USA, etc. Das alles wird in den Schlagzeilen zu etwas, was sich mit dem interessanten Begriff "Empörungsjournalismus" umschreiben ließe. Eben erst erschien auf dem Bildschirm der Titel: "Die SPD muss mit Gerhard Schröder brechen" (von Jan Rübel). Muss sie das wirklich? Wer befiehlt ihr das? Was hat die SPD davon - und was G. Schröder, was die Parteienlandschaft und was das eigene Gewissen? Politische Bildung ist sicher wichtig und heute mehr als notwendig, aber eine intensive Beschäftigung mit dem Hin und Her der politischen Meinung und dem, was hier und dort als neueste wissenschaftlich gestützte Wahrheit verkauft wird, das sei dem überlassen, der sich einer ziemlich lächerlich gewordenen Strategie von Opportunismus und schlecht versteckter Ironie im Politischen unterwerfen möchte. In Deitschland können wir froh sein über die neuen Anfänge nach dem 2. Weltkrieg, über das, was aufrichtige Menschen nach einer zermürbenden Zeitspanne von 12 Jahren unter und mit dem Nationalsozialismus aufbauen konnten. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum viele Menschen in Deutschland gerne klare Fakten herbeisehnen. Diese Fakten allerdings sind allzu oft nur eine schöne Kulisse: Es fehlt bis heute die grundlegende Aufarbeitung der Geschichte - um es mal allgemein zu formulieren. Leider reicht es ja nicht, sich artig an die Brust zu klopfen und die Fehler Deutschlands einzugestehen. Ich persönlich denke oft: Wahrscheinlich hätte ich nichts besser gemacht, als meine Verwandten und Kompatrioten. Ich hätte wohl ebenfalls zugestimmt, als der rechtmäßigen Staatsführung ihr Recht zugestanden wurde. Ich hätte wohl nur mit Mühe, wenn überhaupt, die sich leerenden Wohnungen und Geschäfte bestimmter Volksgruppen wahrgenommen - ob ich dann die Intelligenz besessen hätte, die richtigen Schlüsse zu ziehen? Ratzinger, Putin, und ich weiß nicht wem noch: Ihnen allen wird schlimmstes Versagen und despotisches, uneinsichtiges Verhalten vorgeworfen. Im Falle Ratzinger mehren sich plötzlich andere Stimmen, die auf einmal schwarz auf weiß vorzeigen, dass eine gegenteilige Aussage zu der bis vor kurzem vorliegenden und schon wiederrufenen ja vor fast zwei Jahren für jeden nachlesbar in einer Biographie erwähnt wird. Der "Empörungsjournalismus" zählt auf die sündelosen Leser und die ganz reinen Intelligenten, die vor der Unvollkommenheit des Anderen voller Ekel aufschreien, während die eigene Begrenztheit und vielleicht auch Sündhaftigkeit mit großer Geste zugedeckt wird. Es hat immer etwas Erschütterndes, wenn die eigene Meinung und Überzeugung, und sei sie auch wohlbegründet, als einzig vernünftige und sinnvolle und rechtmäßige Optionen (Was sage ich: Optionen?) hingestellt werden. Natürlich kann auch da etwas Wahres zu finden sein, aber sicher nicht die Wahrheit und der einzige Sinn! Ich würde gerne den reißerischen Titel des vollendeten Journalismus einer großen deutschen Zeitung lesen, der jetzt, nach doch recht vielen Jahren, anstelle des "Wir sind Papst!!!" sich bereit zeigt zu schreiben: "Wir sind Lügner!!!" Und doch wäre es kein Trost.

Dienstag, 25. Januar 2022

Aktuell und ergänzend zur Einschätzung des Ukraine-Konflikts - die "nouvelle théologie"

Es ist und bleibt verstörend und verletzend für die Christen, dass aus der christlichen, kirchlichen Gemeinschaft Beauftragte - Kleriker also, die ausgesondert wurden, folglich auch nicht durch Anspruch und Willen diesen Dienst übertragen bekamen - durch Unversöhnlichkeit und mangelnde Kommunikationsbereitschaft alle anderen mit sich in den Strudel der Entzweiung reißen. Denn, wie kürzlich dargelegt: Es geht nicht mehr um Kirchenpolitik, auch nicht um Geopolitik, auch nicht um Rache. Es geht jetzt um die Kirchlichkeit. Ein bescheiden daherkommender Begriff von enormer Tragweite. Wie es scheint, läuft alles hinaus auf eine Verdeutlichung der Positionen. Wo kann die orthodoxe Kirche nicht nur "kanonisch", sondern auch in ihren Mysterien und in ihrem Charisma weiterleben und weiter ihrer Sendung treu bleiben. In einem englischsprachigen Artikel wird dieses Problem von einem Bischof der griechischen Kirche aufgeworfen. Als Verteidiger der russischen Position im Ukraine-Konflikt sieht er in der Einrichtung eines Exarchats in Afrika durch die russische Kirche einen schweren Fehler, einenen Gesichtsverlust der russischen Kirchenpolitik, die er bislang ja unterstützt hatte. Genau hier zeigt sich die beklemmende Verzerrung der Positionen, je nach Penchant und Kulturkreis, so will es bald scheinen. Metropolit Seraphim, um dessen Position es hier geht, hat canones, Rechte, Bestimmungen und ein "Protokoll" innerkirchlicher Beziehungen vor Augen. Er sieht den Konflikt zwischen dem Phanar, Moskau und Alexandrien als misslungene geopolitische Aktion dreier sich mittlerweile nicht mehr verstehender Bürokratien. Dabei ist man geneigt, die Position der russischen Kirche ganz anders einzuordnen: Ist es wirklich zu weit hergeholt, die Gnadengaben des Heiligen Geistes an die menschliche Einwilligung zu binden, für diese Gnadengaben auch empfänglich zu sein? Ist es unverständlich, wenn das Evangelium eindeutige, strenge und unmissverständliche Worte findet, wie die Beziehung zwischen Gott und Mensch gelingen kann? Ist es weiters missverständlich formuliert, wenn die Mysterien der Kirche nicht auf Hochrechnung bestimmter vorhandener oder nicht vorhandener Komponenten funktionieren, sondern aufgrund der gesamten und intakten divino-humanen Realitäten des Kirche-Seins? Erzbischof Anastasius von Albanien hat unmissverständlich betont, dass genau diese Realität zerbrochen ist, wenn die Versöhnung fehlt. Er kann sich dabei stützen auf die Worte des Evangeliums, die jedes Opfer nichtig nennen, das unversöhnt dargebracht werden soll. Versöhnt heißt hier nicht: Unterscrhreibe eine offizielle Aktennotiz der Versöhnung und die Rechnung stimmt wieder. Versöhnt heißt hier konkret: Räume zuerst die Unversöhntheit aus der Welt, und zwar vor Gott und der Kirche, vor allen Beteiligten ("... versöhne dich zuerst mit deinem Bruder ...", Matth 5,23f.) Es reicht bei weitem nicht, symbolisch im Tempel den Zerknirschten zu mimen - bei fortdauerndem Hass, Unversöhntheit und Gewalt ist die Maske der Versöhnung eine Täuschung. Dass man zwei kirchliche Strukturen in Afrika hat, ist ein Akt der Verzweiflung, nicht der Geopolitik, erst recht nicht der Kirchenpolitik. Alle sind von nun an betroffen, denn alle haben sich zu sorgen um die Kirche, die nicht auf Gesetze und Protokolle gegründet ist, sondern auf Jesus Christus, der nicht Grieche, nicht Russe, nicht Serbe oder Rumäne oder Römer war. Dass der Herr der Kirche nicht nur war, sondern auch ist und sein wird, macht jede Kirchen- oder Geopolitik so erbärmlich für die Gewinner und für die Verlierer, ob sie es merken oder nicht. Für uns ist es ein Trost: Die Erbärmlichkeit wird keinen Bestand haben, wenn wir festhalten am Evangelium.

Vom Wert der Unergründlichkeit

Scheinbar hilft es enorm, Gedanken eine feste Form zu geben. Ob Journalisten das ebenfalls so wahrnehmen, sei dahingestellt. Was dem Menschen oftmals zugemutet wird an Veröffentlichungen, übersteigt hingegen das Maß des Erträglichen. Auf jeder neuen Seite im Internet lassen sich die Anklagen und Weh-Rufe verfolgen, die geschickt und höchst manipulativ mit Wörtern jonglieren und sich die Angst und die Unsicherheit der Menschen zunutze machen. Bei genauerer Analyse entpuppt sich das Allermeiste als wenig fundierter Abklatsch einer Modemeinung, die heute so, morgen anders hofiert wird. In einem interessanten Aufsatz zur Rezeption der Liturgiehistorie (Alain Rauwel, Les espaces de la liturgie au Moyen Âge latin) beleuchtet der Verfasser den Umgang der Geschichtswissenschaft mit liturgiehistorischen Quellen und denkt laut nach über die Rezeption dieser Quellen in wissenschaftlichen Kreisen heute: Ohne wirklich zu tragfähigen Definitionen der Begrifflichkeiten gelangt zu sein, wirft man eifrig mit eben diesen Begrifflichkeiten um sich. Eine der fatalsten Folgen ist die völlige Verzerrung der Quelle durch unsachgemäße Übertragung des Originaltextes bei seiner Exegese. Beispiele gibt es zu Genüge. Daher sei an dieser Stelle auf zwei der bedenklichsten Fehlgriffe hingewiesen - wohlwissend, dass sicher keiner der "Exegeten" vorsätzlich falsch interpretieren will, zumal es sich sehr oft um wirklich verdienstvolle und hochgebildete Wissenschaftler handelt! Bei der ersten Missdeutung geht es um die Übertragung eines fremdsprachlichen Begriffs - vor dem hier behandelten Hintergrund ist es meist eine Übersetzung aus dem Lateinischen: Tatsächlich trifft dann auch voll und ganz zu, was Rauwel beklagt, dass nämlich das lateinische Wort für sich genommen richtig übersetzt wurde, dass die Übersetzung im Kontext allerdings völlig falsch gewählt wurde. Nicht nur das: Jeder Lateinschüler kann im Wörterbuch nachschlagen, dass z.B. der Ausdruck "venia" bedeuten kann: Gefälligkeit, Gunst, Gnade, Nachsicht, Erlaubnis, Verzeihung, Vergebung, Straflosigkeit... Leider kann ein solches Wörterbuch allgemeiner Art nicht Bildung im guten Sinne ersetzen; um "venia" halbwegs gut übertragen zu können, muss der Leser den Begriff einzuordnen verstehen in seinen konkreten Kontext. Er muss sich ein Verständnis von dem gebildet haben, was der Text weitergeben möchte. Ein solches Verständnis kann heute unser Vermögen übersteigen! Das angemessene Verständnis des Wortes "venia" (auf konkrete Passagen bezogen) ergibt sich aus einer Zusammenschau der persönlichen Haltung, der geistlichen Überzeugung und vor allem des konkreten Tuns eines Menschen, dem sich die "venia" anbietet als äußerer Ausdruck seiner Teilhabe am Leben der Kirche: Er vollzieht eine Venia. Wir gehen indes mit dem Handwerkszeug an diese Arbeit heran, das uns erreichbar ist, und das ist oftmals sehr hochwertig; aber es ist modern, will heißen: Wir versuchen, etwas auseinanderzunehmen, indem wir dort Verbindungen - notfalls mit Gewalt - mittels Schraubendreher und Schraubenschlüssel lösen wollen, wo es weder Schraubenkopf noch Mutter gibt. Alain Rauwel plädiert dafür, zuerst zu ergründen, wie unser Werkstück - der historische Text - zusammengefügt ist, um schließlich ans Ziel zu gelangen, ohne ein völlig zerstörtes und damit auch nutzlos gewordenes Artefakt präsentieren zu müssen. Es entspricht dann in Form und Gestalt dem, was wir kennen, hat aber nichts mehr mit dem zu tun, was es war und sein sollte. Eine zweite Missdeutung stellt sich unweigerlich ein, wenn nicht nur der Begriff falsch übersetzt wurde, sondern auch der Kontext verkannt wird. Wie ist der Text zu lesen, wenn er sich mir so erschließen soll, wie es beim historischen Adressaten der Fall war? Diese Fragestellung lässt die erschwerten Umstände einer adäquaten Interpretation eines historischen Textes deutlich werden. Wenn wir heute allerdings wirklich versuchen möchten, aus der Geschichte zu lernen, Gebildete zu sein, dann müssen wir uns auf den Weg machen und uns wenigstens in einer Antwort auf die gestellte Frage versuchen! Keinesfalls sollten wir dann so vorgehen, wie es aus sehr vielen Kanälen auf unsere Bildschirme schwappt: voreingenommen, geschichtsvergessen, opportunistisch, auf einem Auge (oder gar auf beiden) blind, unbelehrbar, hasserfüllt, unversöhnlich... Die gründliche und unvoreingenommene Erforschung der kirchengeschichtlichen Quellen, gerade auch der liturgiehistorisch relevanten, kann Antworten geben auf die meisten der heute diskutierten Fragen und Probleme, in der orthodoxen Kirche, aber auch in der römisch-katholischen, ja sogar im Protestantismus. Es scheint so, als hätte nur selten einer die Möglichkeit, so zu forschen. Was mancherorts zu lesen ist, trägt dann leider oft die allzu deutlichen Spuren fehlender Objektivität. Das ist verständlich, sogar verzeihlich, aber nicht wirklich hilfreich. Die Antwort, eigentlich so nah, zieht sich dann wieder zurück. Sie hat nichts gemein mit simplen Notlösungen, noch viel weniger hingegen mit Verdrehung, Mißbrauch und Opportunismus.

Montag, 24. Januar 2022

Kirchenpolitik und Ukrainekonflikt

Die Nachrichten sprechen von Krieg, die Politiker klagen an, und die orthodoxen Kirchen finden keine Worte und keine Lösungen in den schweren Verletzungen, die der Kirche zugefügt werden. Sonderbarerweise läuft es in Politik und Kirche nach dem gleichen Muster: Was opportun erscheint, wird durchgewunken, was nicht, wird sanktioniert. Immer wieder ist zu hören, dass es beim Ukraine-Konflikt zwischen Istanbul-Phanar und Moskau um kirchenpolitische Fragen gehe und dass hier von einer den Glauben betreffenden Angelegenheit nicht die Rede sein könne. Allerdings funktioniert diese Einordnung nur dann, wenn die Kirche eine Einrichtung unter anderen ist: als stünde sie etwa neben einer x-beliebigen Staatsform und folgte seinen Gesetzmäßigkeiten, als könne man sie vergleichen mit dem, was gemeinhin "Institution" genannt wird - und was doch etwas ganz anderes ist, als es die Kirche sein kann. Sie ist nämlich tatsächlich Institution, aber im Vollsinne des Wortes: sie ist eingesetzt, nicht von Menschen, nicht von Organen, nicht auf der Grundlage von Philosophien, sondern eingesetzt durch einen Auftrag Christi: das Evangelium zu leben und zu verkünden. Tatsächlich brauchte es nicht viel mehr, um die Kirche zu "instituieren"; das, was wesenhaft zur Kirche gehört, nämlich ihre apostolische Verwurzelung, ihr Leben in der Gegenwart des dreieinen Gottes mittels der liturgischen Vollzüge, die Weitergabe des apostolischen Erbes durch das Evangelium und die Traditionen, all das ist in der Kirche gegeben, seitdem Menschen den Fleisch und Mensch gewordenen Gott erkennen durften und bekennen. Diese Frage, was an der Kirche denn definierbar und konstruierbar sei, hat folglich zum Bruch zwischen der orthodoxen Kirche und der röm.-kath. Kirche geführt. Allein der Umstand, dass der vorstehende Satz in dieser Form wohl keineswegs akzeptiert würde von den Vertretern der röm.-kath. Kirche, zeigt auf, vor welchen Schwierigkeiten die Menschen stehen, die zur orthodoxen Kirche gehören. Denn es kann den Christen ja nicht darum gehen, sich künstlich zu spalten und zu trennen. Dass aber der Katholik die Frage anders stellt, hat mit einer Verschiebung der "Konstanten" zu tun, die in dieser Form auch im römischen Dunstkreis tatsächlich nicht ursprünglich ist. - Über viele Jahrhunderte galt der Grundsatz, dass als untrennbar zu gelten hat, was zur Institution Kirche gehört. - Alle Komponenten der Kirche bildeten in Ost und West zu jener Zeit ein Ganzes, wie auch die Kirche an ihrem jeweiligen Ort und unter ihrem jeweiligen Bischof ein Ganzes war, ohne dass alle diese örtlichen Kirchen aufgehört hätten, die eine Kirche zu bilden. Die Sakramente, die Organisation, die Sprache, die Disziplin - all das konnte sich in ihrer Form - nicht ihrem Inhalt nach - unterscheiden in Ost und West. Was sich nicht unterschied, war die Überzeugung, dass nichts von all dem separiert werden konnte ohne Angriff der Kirchlichkeit. Das ist wohl eines der Hauptprobleme, wenn es um die Kirche in der Ukraine geht. Es ist einfacher, die canones der entsprechenden Konzilien anzuführen, um bestimmte Maßnahmen zu legitimieren, wie es seitens des Phanar geschehen ist. Dass eine solche Argumentation für andere Kirchen nicht akzeptabel ist, kann nicht verwundern: Dem orthodoxen Kirchenverständnis fehlt die Möglichkeit, buchhalterisch hochzurechnen und dadurch das Mysterium der Kirche aufzurechnen. Fatal bleibt der politisch motivierte Hintergrund des kirchlichen Ukraine-Konflikts. Eine "Landeskirche" der Ukraine auf das Fundament einer den Hass und die Abneigung schürenden politischen Strömung zu gründen, entspricht zwar einer gewissen Opportunität, widerspricht allerdings dem grundlegenden Auftrag der Kirche. So ist es keineswegs verwunderlich, dass der Großteil der orthodoxe Kirchen der "nouvelle théologie" des Phanar und jener Kirchen, die ihn unterstützen, eine Absage erteilen müssen. Sonderbarerweise versagt an dieser Bruchstelle diese "nouvelle théologie": Dass es in der Kirche eine "Versöhnung" geben kann, die losgelöst ist von grundlegenden Komponenten dieser (kirchlichen) Versöhnung, darf verneint werden: Philaret Denisenko und alle mit ihm aus der Gemeinschaft der Kirche entlassenen Menschen können nicht durch einen Jurisdiktionsakt zweifelhafter Art Versöhnung finden; dadurch unterscheidet sich der Fall gundlegend von der Wiedereingliederung der russ. Auslandskirche ins Moskauer Patriarchat. Es bedarf einer Versöhnung in der Kirche, mit den Beteiligtenm, nicht eines Rechtsaktes, um wieder das Mysterium der Kirche abbilden zu können. Diese wesentlichen Aspekte außer Acht zu lassen, ist nicht mehr "Kirchenpolitik", ist auch nicht mehr "ein anderer Blickwinkel". Es geht bei diesen Aspekten um grundlegende theologische Wirklichkeiten, die weitreichende Folgen haben für alle Christen. - Eine ganz entscheidende Frage wird sein: Wo existiert und lebt die Kirche weiter mit all ihren Charismen und Sakramenten, mit ihrer Unversehrtheit, die sich nicht auf menschliche Sündlosigkeit und Sophismus stützt, sondern auf die Gnade des Heiligen Geistes, die wirksam werden kann, auch das bleibt wahr, durch die Vermittlung sündiger und unvollkommener Menschen der Kirche.

Mittwoch, 12. Januar 2022

Orthodoxie, Politik - und die "Deutsche Tagespost"

Die Meldungen zum angespannten Verhältnis des griech.-orth. Patriarchats in Alexandria und dem Moskauer Patriarchat infolge des Zerwürfnisses um die ukrainische Kirche mehren sich. Die "Deutsche Tagespost" hat einen kurzen Text aus der Feder von Stephan Baier veröffentlicht unter der Überschrit "Der Riss durch die Orthodoxie wird immer tiefer". Der Text an sich ist griffig formuliert und lässt wohl nur den orthodoxen Leser stutzig werden: Wie kann es sein, dass ein Satz, der erste des Textes, den Kontext dermaßen verkürzt, dass der wenig vertraute Leser gleichsam in eine Richtung denken muss, die dem Autor eigen ist? Der Satz liest sich folgendermaßen: "Der tiefe Riss, der seit dem russischen Boykott des Panorthodoxen Konzils auf Kreta 2016 durch die orthodoxe Welt geht, ist neuerlich tiefer und breiter geworden." Die russische Kirche hatte ihre Teilnahme nicht etwa im Alleingang ausgesetzt, sondern erst nach der Absage von einigen anderen orthodoxen Kirchen. Der übernächste Satz ist zumindest eingehend zu prüfen, was hier nicht geleistet werden kann; es scheint zumindest so, dass die historische Kirche von Alexandrien einen anderen Jurisdiktionsbereich beanspruchen wollte, als es der folgende Satz weismachen möchte. Zitat Tagespost: "Damit verletzt Moskau die Rechte des Patriarchats von Alexandria, das in der orthodoxen Welt seit jeher für ganz Afrika zuständig ist." Sonderbarerweise kann schon der nächste Satz wiederum in Erstaunen versetzen, Zitat: "Diese kirchenpolitische Offensive ist nicht nur mutmaßlich, sondern erklärtermaßen ein russischer Racheakt dafür, dass sich der Patriarch von Alexandria, Theodoros, im Streit um die Jurisdiktion über die Ukraine klar auf die Seite des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomaios, stellte." Den Verfasser dieser Zeilen würde sehr interessieren, wie der "russische Racheakt" als ein "erklärtermaßen" gesetzter dargestellt werden kann, wenn nicht aufgrund eines grundlegenden Missverstehens der orthodoxen Ekklesiologie. Denn das Handeln der russischen Kirche bezieht sich - erklärtermaßen - auf das funktionierende Leben als Kirche, nicht als Abstrafung für verletztes Vertrauen o. ä. Freilich stimmen in diesem Punkt die "theologischen Systeme" der röm.-kath. Kirche und jetzt wohl auch des Phanar nicht mit dem orthodoxen Verständnis der Kirche überein. Damit ist nun recht deutlich in Worte gefasst, was seit Beginn der eigentlich doch kirchenpolitischen Ukraine-Frage von den Vertretern der russischen Kirche zu bedenken gegeben wird: Die Kirche kann nicht als buchhalterisches System funktionieren, sondern sie lebt einzig durch ihr grundlegendes Sein in der Gegenwart Gottes - was nun wieder recht schwach ausgedrückt ist. Deshalb ist das wirklich Beunruhigende an den Ereignisse rund um die Ukraine, den Phanar, Griechenland, jetzt auch Alexandria und Moskau nicht ein vermeintlicher "Riss durch die Orthodoxie", sondern vielmehr das durchaus mit handfesten Argumenten belegte Bemühen der russischen Kirche, den Gläubigen z. B. in Afrika das kirchliche Leben weiterhin ermöglichen zu wollen - da sich, gelinde ausgedrückt, ein Mangel an "Kirchlichkeit" eingestellt hat durch die Ereignisse rund um die Errichtung einer durch den Phanar geschaffenen ukrainischen Parallelstruktur namens "Orthodoxe Kirche der Ukraine". Zu verstehen ist diese Argumentation nicht mit der Schablone scholastischer Beweisführung. Zumindest will es scheinen, dass der Redakteur Stephan Baier genau dieser Linie zu folgen scheint, mit der er beim etwas weniger polarisierten Leser nicht wenig Verwunderung auszulösen versteht. Ein weiteres Zitat soll den Leser objektiv informieren: '„Wenn ein Hierarch mit einem Schismatiker konzelebriert, fällt er selbst ins Schisma“, begründete der Außenamtschef des Moskauer Patriarchats, Metropolit Hilarion, diesen Bruch.' Das ist ehrenvoll und journalistisch korrekt zitiert. Dieser Satz bleibt vor dem komplexen Hintergrund der orthodoxen Verfasstheit aber ein rechtes Trostpflaster für verletzte Slawophile. Und schwubb, befinden wir uns wieder mitten im II. Weltkrieg, zumindest dem Vokabular nach: "Die russische Afrika-Offensive ist nicht einfach nur eine grobe Missachtung der Rechte des Patriarchats von Alexandria, sondern eine Warnung an all jene orthodoxen Kirchen, die treu zum Ersten, Ehrwürdigsten und Ehrenoberhaupt der weltweiten Orthodoxie, dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, stehen. Die Loyalität zu ihm und seinen Entscheidungen hat offenbar einen hohen Preis, seit Moskau einseitig mit Konstantinopel gebrochen hat." Es ist die "Afrika-Offensive", die Rechte missachtet, aber warnen soll, dass nicht ein hoher Preis zu zahlen sein wird. Der hohe Preis, ist das nicht zuallererst die Abkehr von der orthodoxen Ekklesiologie? Diese Ekklesiologie ist nicht erst seit 2016 oder 2018 in Gefahr; sie war verwundet schon durch kirchenpolitische Schachzüge, sei es in Istanbul, sei es in Moskau, sei es andernorts. Doch immer wieder sind die Gläubigen aufgestanden und haben die Ekklesiologie verteidigt, indem sie durch Wort oder Tat aufgezeigt haben, was zu tun ist, um dem Glauben der Apostel treu zu bleiben. Mit Verwunderung liest sich der Schlusssatz des Tagespost-Textes: "Die russische Orthodoxie setzt offen auf weltliche Machtmittel zur Durchsetzung ihres Standpunkts." Damit möchte S. Baier wohl den vorangehenden Satz erklären, in dem es um die Sorge der russischen Kirche auch für die Orthodoxen in der Türkei geht: "Die russisch-orthodoxe Kirche kann sich nicht weigern, die Orthodoxen in der Türkei zu fördern." (was ein Zitat ist von Metropolit Hilarion). Interessanterweise scheint das jenes "weltliche Machtmittel" zu sein, was Baier im letzten Satz anführt: Es wäre freilich ein völlige Verdrehung und Verkennung dessen, was man selbst als Kritiker des Metropoliten Hilarion seinen Worten unterstellen könnte. Heißt das, dass die wirklich theologische Barriere zwischen Ost und West nunmehr auch intellektuell unüberwindlich wird? "Möge Gott uns vergeben!"