Dienstag, 22. Dezember 2020

Gott hat sein Gesicht verloren ...

... Das könnte man meinen, wenn man sich umsieht. Natürlich ist das unmöglich: Gott hat uns allen ja sein Gesicht gegeben, da er der Schöpfer ist. Wir sind als Kirche sein Leib, ein mystischer, nur im Geheimnis wahrnehmbarer Leib zwar, aber trotzdem real und greifbar. Die Kirche hat fundamentale Stützen: die apostolische Lehren und das Glaubensbekenntnis. Gerade mehren sich die Botschaften verschiedener Bischöfe. Sie mahnen alle die Einheit der orthodoxen Kirche an. Welche Antworten geben die Stützpfeiler der Kirche auf die ungelösten Fragen, die häufig in diesen Bischofsbotschaften angesprochen werden? Einmal ist es die grundlegende Antwort überhaupt: Als Kirche und als Kirchen in Land X und in Land Y haben wir auf Christus zu schauen, nicht auf die Politik, auf Grenzen, auf Ethnien. Eine zweite, vielleicht drängendere Antwort aus apostolischer Zeit ist die Blickrichtung: die Kirche, bestehend aus ihren Bischöfen zusammen mit den Gläubigen, kennt keine andere Hierarchie als die apostolische, bei der das Haupt Christus, alle anderen aber Geschwister sind, wenn auch mit unterschiedlichen Augaben betraut. Daraus ergibt sich die Verfassung der Kirche, die notwendigerweise hierarchisch ist, was aber bedeutet: die Gemeinschaft der Kirche, vertreten durch die Bischöfe (von denen manche auch Patriarchen genannt werden), trifft Entscheidungen im Blick auf ihr Oberhaupt, Christus, in Zusammenkünften und auf Synoden. Diese apostolische Verfassung der Kirche ist keine kirchenrechtliche Spitzfindigkeit, sondern ein sakramentaler Ausdruck ihres Wesens. Einfacher ausgedrückt bedeutet das: Durch die Bewahrung der apostolischen, orthodoxen Verfasstheit der Kirche dürfen wir alle am sakramentalen Leben der Kirche teilhaben. Denn es sind weniger bestimmte Riten und Rubriken, die die Sakramente beseelen, sondern es ist der unverfälschte Glaube der Kirche, in den diese Mysterien mittels äußerer Formen eingepackt sind. Verliert also Christus sein Gesicht, wenn die Kirche mit allen Kräften versucht, am apostolischen Glauben festzuhalten? Auch das kann nicht sein. Denn das, was gerade geschieht - Streit, Unfriede, Ärgernis, Ablehnung, Auflehnung -, das alles lässt zu, dass wir Menschen unser Gesicht vielleicht voreinander zu verlieren scheinen. Denn eines ist klar: Ein Christ verliert sein Gesicht nicht, weder durch die Sünde, noch durch Ehrenrührigkeiten... In dieser Weihnachtsfastenzeit wird daher sehr deutlich, was uns fehlt. Der Blick auf die Würde des Menschen, die soweit geht, dass ein früher Bischof sagen konnte: "Gott wurde Mensch, damit der Mensch vergöttlicht werde." (hl. Athanasius) Wenn dem so ist, dann müssen wir alles daransetzen, diese Würde des Menschen - jedes Menschen - zu verteidigen. Natürlich beginnt das im Kleinen, bei jedem Entrechteten oder Gedemütigten. Aber im Blick auf die Kirche heißt das eben auch: Die Einheit der Kirche kann nur in der gelebten Wahrhaftigkeit gefunden werden. Daher wird es keine Kirche in der Ukraine geben können, die auf Hass gegründet ist. Ein solches Konstrukt kann weder Kirche genannt werden, noch wird sie jemals apostolisch heißen. Deshalb sagt der Bischof von Kiew auch: "... bewaffnet Euch mit dem Gebet!" Und im Grunde ist das Gebet die einzige sinnvolle Waffe gegen den Hass! Es geht in dieser Frage nicht wirklich um Patriarchatsstreitigkeiten oder Vormachtstellungen. Es geht um die Kirche als Leib Christi! Nur aus diesem Grund gab es keine andere Möglichkeit, als uns allen ein Höchstmaß an liebender Verbundenheit abzuverlangen - durch die Aussetzung der "communio", die niemals auf Hass gegründet sein kann. Denn - in aller Ehrlichkeit gesagt - es ist doch völlig egal, welcher Bischofssitz die Verbindung zur Kirche gewährt, ob nun Moskau oder Istanbul, etc. Dass nunmehr aber die politischen Interessen umso deutlicher werden, sollte für die Kirche als ganze nur noch mehr Antrieb sein, sich entschieden gegen den Hass zu wenden und die Versöhnung zur Tat werden zu lassen. Das wird nur gelingen, wenn jeder bereit ist, auch die Geschichte als authentischen Ausdruck der Anwesenheit Gottes zu werten: dass "Konstantinopel" für die griechische Welt einen Halt darstellt, dass die "Rus" bis heute eine staatenverbindende Wirklichkeit sein darf, dass die Kirche in allen Sprachen und Kulturen auf eine je andere Art gegenwärtig sein kann. Nur dann übrigens sind wir wirklich orthodox, da jede Kleinkariertheit im Widerspruch steht zur apostolischen Lehre. Denn sonst hätte der Erlöser der Welt niemals in einer Höhle geboren werden und niemals am Kreuz sterben dürfen. Er hätte sein Gesicht verloren, so denken wir sicher.

Montag, 14. Dezember 2020

Krankheit und Gesetz

Die Evangelienperikope von der verkrümmten Frau (Lk 13,10-17) ist eine mahnende Botschaft an uns. Der Erlöser wird aus sich heraus tätig, ohne dass die Frau mit einer Bitte an Ihn herantritt. Jesus heilt sie und provoziert dadurch ein schweres Ärgernis: Am Sabbat in der Synagoge vollzieht Er die Heilung - gegen das Gesetz und seine Vorschriften! Auch wir sind diese verkrümmte Frau, und in mancherlei Hinsicht können wir uns sogar permanent in ihr wiederfinden. Christus heilt uns beständig, manchmal bitten wir Ihn darum, manchmal haben wir andere Sorgen... Solche Sorgen, die vom Wesentlichen ablenken, finden sich in der Schriftstelle: "Sechs Tage gibt es, an denen man arbeiten darf; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbat!" Der Wächter über Zucht und Ordnung in der Synagoge ist emört über diese Schändung des Sabbat - und das Gesetz ist wohl auch auf seiner Seite. Und doch ist es für ihn nur ein Vorwand. Er sieht weder die geheilte Frau, noch sieht er den Erlöser und Herrn, sondern er wird von Zorn und vielleicht auch Neid gepackt. Uns geht es tatsächlich oft genauso. - Die "Tempelordnung" läuft Gefahr, ausgehebelt zu werden. Das "Typikon" wird missachtet. Altes Recht und älteste Bräuche sind in Gefahr. Leichtsinn und Unordnung herrschen in der Kirche Christi... Alles das mag stimmen, alles das mag bedacht werden. Doch wirklich wichtig ist zuallererst: Der Herr und Erlöser der Menschen heilt hier und jetzt durch Sein sakramentales Tun, das zwar nicht rubrikengemäß ist, aber das die Fülle aller Tradition und Gesetzmäßigkeit in sich trägt. Und das ist tatsächlich auch orthodoxe Lehre: der Blick über die äußerlichen Kanones hinaus auf das Wesen des sakramentalen Handelns. "Diese Tochter Abrahams, die der Satan schon achtzehn Jahre lang gefesselt hielt, musste sie nicht am Sabbat von dieser Fessel befreit werden?" Der Herr antwortet uns exakt und mit Akribie: Seine Heilung ist der Sieg über die Fesseln Satans. Dieser "Verwirrer", der uns alle in Atem hält, musste gerade am Sabbat seine Niederlage entgegennehmen. Bei uns scheinen nur solche recht groben Winke mit dem Zaunpfahl - wenn überhaupt - Wirkung zu zeigen. Und wie lange kann man nicht brauchen, um diese längst und nur zu gut bekannte Perikope so zu verstehen? Dass all das, was uns trennt und immer mehr trennt, weil es scheinbar gegen das Gesetz und gegen die Kanones ist (und zwar auf allen Seiten!!!), nur deshalb trennen kann, weil wir nicht auf den Erlöser blicken, sondern auf das, was um ein Vielfaches kleiner und sogar erbärmlicher ist als Er. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die Abschaffung oder Verwässerung der Kanones, des Typikons oder der Kirchengesetze! Nichts weniger als das will die Perikope ausdrücken. Denn Christus sagt eindeutig und mit klaren Worten: "... musste sie nicht am Sabbat von dieser Fessel befreit werden?" Der Sabbat, der hier für all das steht, was uns äußerlich als Kirche zusammenhält und trägt, ist absolut unerlässlich für diese Heilung, denn erst mittels dieser äußeren Form wurde der Satan wirklich besiegt, da der Erlöser auf das Wesentliche hingewiesen hat: die Liebe in ihrer Vollform. Deshalb klingt der letzte Satz der Perikope wie das Finale einer Synphonie: "Als Er dies sagte, wurden alle Seine Widersacher beschämt, und das ganze Volk freute sich über alles Herrliche, was durch Ihn geschah." Wir, die Widersacher, und wir, die Kirche, sollten uns schämen, wenn wir das Gute aus dem Blickwinkel des "Verwirrers" vorgegaukelt bekommen und es nicht als solches erkennen (wollen?). Denn eigentlich dürfen wir uns aufrichtig freuen über die Wunder Christi, die jeden Tag vor unseren Augen geschehen. Es ist ein Evangeliumsabschnitt gegen Kurzsichtigkeit in all ihren Formen!