Dienstag, 25. Januar 2022

Vom Wert der Unergründlichkeit

Scheinbar hilft es enorm, Gedanken eine feste Form zu geben. Ob Journalisten das ebenfalls so wahrnehmen, sei dahingestellt. Was dem Menschen oftmals zugemutet wird an Veröffentlichungen, übersteigt hingegen das Maß des Erträglichen. Auf jeder neuen Seite im Internet lassen sich die Anklagen und Weh-Rufe verfolgen, die geschickt und höchst manipulativ mit Wörtern jonglieren und sich die Angst und die Unsicherheit der Menschen zunutze machen. Bei genauerer Analyse entpuppt sich das Allermeiste als wenig fundierter Abklatsch einer Modemeinung, die heute so, morgen anders hofiert wird. In einem interessanten Aufsatz zur Rezeption der Liturgiehistorie (Alain Rauwel, Les espaces de la liturgie au Moyen Âge latin) beleuchtet der Verfasser den Umgang der Geschichtswissenschaft mit liturgiehistorischen Quellen und denkt laut nach über die Rezeption dieser Quellen in wissenschaftlichen Kreisen heute: Ohne wirklich zu tragfähigen Definitionen der Begrifflichkeiten gelangt zu sein, wirft man eifrig mit eben diesen Begrifflichkeiten um sich. Eine der fatalsten Folgen ist die völlige Verzerrung der Quelle durch unsachgemäße Übertragung des Originaltextes bei seiner Exegese. Beispiele gibt es zu Genüge. Daher sei an dieser Stelle auf zwei der bedenklichsten Fehlgriffe hingewiesen - wohlwissend, dass sicher keiner der "Exegeten" vorsätzlich falsch interpretieren will, zumal es sich sehr oft um wirklich verdienstvolle und hochgebildete Wissenschaftler handelt! Bei der ersten Missdeutung geht es um die Übertragung eines fremdsprachlichen Begriffs - vor dem hier behandelten Hintergrund ist es meist eine Übersetzung aus dem Lateinischen: Tatsächlich trifft dann auch voll und ganz zu, was Rauwel beklagt, dass nämlich das lateinische Wort für sich genommen richtig übersetzt wurde, dass die Übersetzung im Kontext allerdings völlig falsch gewählt wurde. Nicht nur das: Jeder Lateinschüler kann im Wörterbuch nachschlagen, dass z.B. der Ausdruck "venia" bedeuten kann: Gefälligkeit, Gunst, Gnade, Nachsicht, Erlaubnis, Verzeihung, Vergebung, Straflosigkeit... Leider kann ein solches Wörterbuch allgemeiner Art nicht Bildung im guten Sinne ersetzen; um "venia" halbwegs gut übertragen zu können, muss der Leser den Begriff einzuordnen verstehen in seinen konkreten Kontext. Er muss sich ein Verständnis von dem gebildet haben, was der Text weitergeben möchte. Ein solches Verständnis kann heute unser Vermögen übersteigen! Das angemessene Verständnis des Wortes "venia" (auf konkrete Passagen bezogen) ergibt sich aus einer Zusammenschau der persönlichen Haltung, der geistlichen Überzeugung und vor allem des konkreten Tuns eines Menschen, dem sich die "venia" anbietet als äußerer Ausdruck seiner Teilhabe am Leben der Kirche: Er vollzieht eine Venia. Wir gehen indes mit dem Handwerkszeug an diese Arbeit heran, das uns erreichbar ist, und das ist oftmals sehr hochwertig; aber es ist modern, will heißen: Wir versuchen, etwas auseinanderzunehmen, indem wir dort Verbindungen - notfalls mit Gewalt - mittels Schraubendreher und Schraubenschlüssel lösen wollen, wo es weder Schraubenkopf noch Mutter gibt. Alain Rauwel plädiert dafür, zuerst zu ergründen, wie unser Werkstück - der historische Text - zusammengefügt ist, um schließlich ans Ziel zu gelangen, ohne ein völlig zerstörtes und damit auch nutzlos gewordenes Artefakt präsentieren zu müssen. Es entspricht dann in Form und Gestalt dem, was wir kennen, hat aber nichts mehr mit dem zu tun, was es war und sein sollte. Eine zweite Missdeutung stellt sich unweigerlich ein, wenn nicht nur der Begriff falsch übersetzt wurde, sondern auch der Kontext verkannt wird. Wie ist der Text zu lesen, wenn er sich mir so erschließen soll, wie es beim historischen Adressaten der Fall war? Diese Fragestellung lässt die erschwerten Umstände einer adäquaten Interpretation eines historischen Textes deutlich werden. Wenn wir heute allerdings wirklich versuchen möchten, aus der Geschichte zu lernen, Gebildete zu sein, dann müssen wir uns auf den Weg machen und uns wenigstens in einer Antwort auf die gestellte Frage versuchen! Keinesfalls sollten wir dann so vorgehen, wie es aus sehr vielen Kanälen auf unsere Bildschirme schwappt: voreingenommen, geschichtsvergessen, opportunistisch, auf einem Auge (oder gar auf beiden) blind, unbelehrbar, hasserfüllt, unversöhnlich... Die gründliche und unvoreingenommene Erforschung der kirchengeschichtlichen Quellen, gerade auch der liturgiehistorisch relevanten, kann Antworten geben auf die meisten der heute diskutierten Fragen und Probleme, in der orthodoxen Kirche, aber auch in der römisch-katholischen, ja sogar im Protestantismus. Es scheint so, als hätte nur selten einer die Möglichkeit, so zu forschen. Was mancherorts zu lesen ist, trägt dann leider oft die allzu deutlichen Spuren fehlender Objektivität. Das ist verständlich, sogar verzeihlich, aber nicht wirklich hilfreich. Die Antwort, eigentlich so nah, zieht sich dann wieder zurück. Sie hat nichts gemein mit simplen Notlösungen, noch viel weniger hingegen mit Verdrehung, Mißbrauch und Opportunismus.

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