Freitag, 22. November 2013

Campus Galli, Illusion und Wissenschaft

Als ein mit den Herausforderungen von Mönchtum, Wissenschaft und Verlagswesen Vertrauter ist mir das Projekt des "Campus Galli" schon seit längerer Zeit bekannt. Und natürlich verfolge ich - halbherzig, ich gebe es zu - die Diskussionen im Netz. Seit Eröffnung der Baustelle im Juni d.J. schlängele ich mich durch die teils nur schwer lesbaren Kommentare der Gegner und Befürworter des Projekts und lese interessiert die fundierteren Reflexionen - vor allem im Blog des Hiltibold. Ein Wörtchen mit besonderer Sprengkraft ist mir dort hängengeblieben: "desillusioniert".
Nun hat mich in meiner Karriere vor allem eines immer stark gebremst, nämlich das Klischee. Sobald sich Klischees auftaten, brauchte es Stunde um Stunde an Arbeitskraft und Quellenstudium, um eben jenes Schubladendenken zu entkräften.
Und natürlich: Die Arbeit ist nie umsonst gewesen. Und natürlich: Sie hat meine eigenen Klischees ordentlich zurechtgestutzt (ohne sie bis heute zur Gänze zunichte zu machen...)!
Doch zurück zur "Desillusion": In Bezug auf den "Campus Galli" wird, so Hiltibold, der Besucher auf der Baustelle desillusioniert. Und das im negativen Sinne, da zu viel den Ansprüchen nicht gerecht würde, die man an so ein Projekt stellen dürfe. Gott sei Dank, so sage ich, und das zum wiederholten Mal! Als ein Mann eher des Geschriebenen, als des Handwerks, ist für mich das Bauprojekt des "Campus Galli" dazu da, die Gäste im besten Sinne zu desillusionieren. Heutzutage braucht es beinahe zuallererst die Desillusion, um zum Kern der Sache vordringen zu können! Daher ist für mich der Anspruch der "Living History"-Szene an das Projekt nicht unsinnig, aber doch scharf zurechtzurücken. Die experimentelle Archäologie hat klare Vorgaben und soll ebenso klare Antworten geben. Doch allein die Ausgangsbasis der Experimente braucht ein solides Fundament, um intelligente Fragen überhaupt erst stellen zu können, nach deren Lösung gesucht werden soll. Für die Erforschung des frühmittelalterlichen monastischen Lebens hält der Klosterplan von St. Gallen Material bereit, das zuerst erkannt werden will. Leider gibt die "Living History"-Szene und mancher, der im Dunstkreis von "Hiltibold" wettert, sich arg humorlos, will mir scheinen. Dort werden Phrasen seziert - und an gleicher Stelle gedroschen! Dort werden Regeln eingefordert - und an gleicher Stelle völlig außen vor gelassen. Die Quellentexte werden nicht erst interessant, wenn die Übersetzungvarianten das halbe Dutzend übersteigen. Sie sind es schon dann, wenn sie ins Leben übertragen werden müssen, um adäquat übersetzt werden zu können (und schon da brennt mir der Satz auf der Zunge!). Deshalb ist es relativ unwesentlich, ob ein Bagger das "Campus Galli"-Gelände vorher durchpflügt hat oder Hilfsmittel der Moderne in Anspruch genommen wurden, als es darum ging, das Terrain vorzubereiten. Viel wesentlicher ist, welche Fragen noch akut sind! Ob die Mitarbeiter sich Stück für Stück an die Möglichkeiten heranarbeiten möchten, die das Frühmittelalter dem Handwerker an die Hand gab. Noch viel wesentlicher ist hingegen, ob hinter diesen Fragen ein Wort mit Ausrufungszeichen stehen darf, das in etwa lauten könnte: Wider die Illusion!
Alles Quellenstudium, alle Editionstätigkeit mit kirchengeschichtlichem Hintergrund muss sich messen lassen am Sitz im Leben. Denn wo das Gewesene nur aus nostalgischen oder philologischen Gründen heraufgeholt wird, da kann es beinahe nicht adäquat erschlossen werden. Wer nicht bereit ist, aus den geistlichen Quellen zu lernen, die er erschließt oder bearbeitet oder auswertet, und sein Leben daraus zu erneuern, der ist im Grunde sogar dazu verurteilt, in eine Sackgasse zu laufen. "Living History", die nicht desillusioniert, ist wahrscheinlich gefährlich. Denn sie spielt mit der menschlichen Sehnucht nach der heilen Welt, ohne Lärm und Hektik, durchzogen vom gesunden Rauch und willig ertragener Kälte und Feuchtigkeit. Vielleicht auch mit der Sehnsucht nach dem menschlicheren Gesicht von Kampf und Macht, reich und arm. Als ob die Realität nicht viel Größeres zu bieten hätte! Sie böte die Möglichkeit, im bescheidenen Rahmen - d. h. im konkreten gesellschaftlichen Umfeld des Hier und Jetzt - aus der Geschichte zu lernen.
Für den Forscher bedeutet das: Eine Antwort auf meine Fragen bekomme ich dann, wenn ich neben den historischen Vorgaben die Lebenswirklichkeit nicht aus den Augen verliere, die hinter den Quellen steht. Es bedeutet auch: Dass ich mir bewußt bin, keine verwertbare Antwort bekommen zu können, sobald der Mensch, der nach der Antwort sucht, sich nicht physisch, psychisch und mental der historisch vorgegebenen Situation stellen kann. Es wäre schön, wenn Projekte wie "Campus Galli" nicht einfach deshalb untergehen müssten, weil sie den gängigen Vorstellungen dieser oder jener Seite nicht entsprechen. Ein Verlust großen Ausmaßes wäre es tatsächlich, die Chancen zu verspielen, die sich durch die Vermittlung von Kulturgut auftun können. Dass es um Steuergelder geht, dass es sicher auch um Prestige und leider auch um Neid geht, gehört zur Realität, die es nun mal - Gott sei Dank - zu desillusionieren gilt...                          

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen